Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Das sollen wir nachmachen? dem Mörder, dem Folterer, dem schlimmsten Feind soll ich vergeben? Unmöglich!
Jesus ist zwar Mensch, aber eben doch auch Gottes Sohn: Er kann das, aber wir als normale Kreaturen?
Immerhin: Stephanus hat Jesu Vorbild für sich umgesetzt, aber auch er war schließlich ein Heiliger!
Nehmen wir es mal konkret:
Jemand, der in seiner Kindheit jahrelang missbraucht worden ist;
Eltern eines grausam ermordeten Kindes:
Die millionenfach um ihr Geld betrogene Anleger;
Einer, dessen Leben durch hinterhältige Untreue eines Ehe- oder Lebenspartners, eines Freundes zerstört ist….
Das sind doch der Ruf nach Vergeltung und Rache nur natürlich: „Auge um Auge“ ist seit je das Handlungsprinzip, das nach Gerechtigkeit sucht. Märchen, klassische Dramen oder Actionfilme, ob Western oder Thriller, leben davon: Der Böse muss am Ende entsprechend seiner Grausamkeit leiden und sterben. Das entspricht unserem Gerechtigkeitsgefühl. Aber genauso wissen wir: aus Rache entsteht keine Gerecht-, sondern Gerächtigkeit. Blutrache führt zur gegenseitigen Ausrottung.
Unter all das zieht Jesus mit seinem Wort von der Vergebung einen Schlussstrich. Er macht seinen Richtern und seinen Henkern keine wehklagenden Vorwürfe, verlangt keine Bestrafung des Verbrechens an ihm und keine Wiedergutmachung des erlittenen Schadens und er bittet sogar die höchste richterliche Instanz, auf Bestrafung der Täter zu verzichten. Das widerspricht durchaus dem alttestamentlichen Verständnis: „Mein ist die Rache, spricht der Herr!“
Seine Vorstellung von der grenzenlosen Vergebung hatte Jesus während seiner Lehrtätigkeit wiederholt zum Ausdruck gebracht: „Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen!“ oder auch eindrucksvoll im Gleichnis vom verlorenen Sohn (vom barmherzigen Vater). Diese Theorie hat Jesus im Augenblick des Sterbens für sich in die Praxis umgesetzt. Er spricht nicht nur von der Feindesliebe, sondern er setzt sie um.
Nur auf diesem Weg kann eine dauerhafte Versöhnung entstehen. Das gegenseitige Verzeihen ist dafür die Voraussetzung und dazu gehört wesentlich das Vergessen; denn wenn ich sage: „Ich vergebe dir, aber vergessen kann ich es nicht“, dann ist der Stachel zwar aus dem Fuß gezogen, aber die hinterlassene Wunde kann nicht heilen, weil sie nicht behandelt und verbunden wird. Letzteres wird wenigstens ermöglicht durch die Formulierung; „….und ich versuche, es zu vergessen“.
So lässt sich auch im Alltag im Großen und im Kleinen, ob bei Konflikten zwischen Staaten oder im Streit innerhalb der Familie oder mit Nachbarn eine Versöhnung erreichen als Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben.
In der Dunkelheit der wachsenden Entfremdung und Feindschaft lässt das erste Wort Jesu am Kreuz von der vorbehaltlosen Vergebung uns ein Licht aufgehen. Es ist wie ein erster Stern in der Nacht, der Helligkeit und Orientierung bringt:
Der Stern der Versöhnung.
So ist es auch mit dem zweiten Stern, der in dem Wort aufleuchtet: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“.
Die beiden Verbrecher an der Seite Jesu gehen wie er selbst unausweichlich dem grausamen Dunkel des Todes entgegen. Es sind aber nicht nur die unerträglichen Schmerzen beim Sterben des langsamen Erstickens, die sie gleichermaßen bedrängen. Vielmehr haben die beiden „Schächer“ allen Grund, wegen ihrer Taten auch Angst zu haben vor einem Verdammungsurteil im Jenseits, wo man sich auch in der Antike die schlimmsten Strafen vorstellt. Da gibt es keine Vergebung, sondern nur Vergeltung. Da gibt es keine Hoffnung, dass der göttliche Richter ein Auge zudrückt. Der zur Linken sieht in seiner Verzweiflung keinen Ausweg und sucht Ersatzbefriedigung, indem er mit der Gaffermeute heult und Jesus verhöhnt. Der zur Rechten hat dagegen eine Erleuchtung, die ihn hoffen lässt: Er erkennt, dass der neben ihm hängende Mann im Unterschied zu ihm selbst diesen Tod nicht verdient hat. Er kann kein gewöhnlicher Mensch sein, und deshalb setzt er alles auf ihn. Er glaubt, dass er durch ihn über den Tod hinaus etwas für sich bewirken kann. Er weiß, er muss sich ihm völlig öffnen in seiner ganzen Schuld und Niedrigkeit.
Und so erfährt er, wie der verlorene Sohn von Jesus als Bruder aufgenommen zu werden, und es wird ihm das Glück in Vollendung zugesagt.
Genau das geschieht auch uns, falls wir im Dunkel unserer Schuld zu verzweifeln drohen, wie ich mir das nur zu gut vorstellen kann bei dem Fahrdienstleiter, der 12 Tote und viele Verletzte auf dem Gewissen hat, weil er zur falschen Zeit sich vom Handyspiel hat ablenken lassen. Durch Einsicht der Schuld und die damit verbundene Hinwendung zu den geschädigten Menschen und damit zu Gott kann auch ein noch so verkorkstes Leben in die Arme des bedingungslos vergebenden Vaters führen; denn er freut sich mehr über einen Verirrten, der zu ihm umkehrt, als über tausend Gerechte. Jesus zeigt durch die Zusage an den Schächer zur Rechten, dass keine noch so große Schuld die Hoffnung auf ein letztlich erfülltes Leben verbaut, vorausgesetzt, er wendet sich schuldbewusst Gott zu und bereut. Jesus vermittelt uns diesen Gott als Vater, der immer bereit ist, den zurückkehrenden Sohn wiederaufzunehmen. Zugleich fordert er uns damit auf, ebenso zu handeln wie dieser versöhnende Gott: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel ist!“ Auf diesem Weg der grenzenlosen Vergebung gelingt die tiefste und nachhaltigste Versöhnung unter Menschen und mit Gott, d.h. sein Sohn, seine Tochter sein zu dürfen, ohne es sich besonders verdienen zu müssen außer einer ehrlichen, liebevollen Hinwendung.
So wird das zweite Wort Jesu zum
Stern der Hoffnung.